Was wir heute für wahr halten, kann sich morgen als falsch erweisen. Die Halbwertszeit von Wissen und Wahrheit verkürzt sich ständig. Diese Vorläufigkeit fordert uns heraus. Sie zwingt uns zur Demut, zur Offenheit gegenüber Neuem und zum stetigen Hinterfragen. Besonders in der Ära der künstlichen Intelligenz wird dieser Prozess noch beschleunigt.
Wissen: Eine sich wandelnde Ressource
Wissen ist stets vorläufig und nie endgültig. Was heute als unumstößlich gilt, kann morgen widerlegt werden. Diese Vorläufigkeit des Wissens zwingt uns, offen dafür zu bleiben, dass wir auch falschliegen könnten.
Die Erkenntnis, dass unser Wissen begrenzt ist, ist jedoch keineswegs neu. Schon der antike Philosoph Aristoteles formulierte diese Demut prägnant:
Jedoch war Aristoteles‘ Demut noch nie so aktuell wie heute.
Wahrheit: Ein wankendes Konstrukt
Wahrheit ist das, was jeder zu besitzen scheint und dann doch oft unausgesprochen bleibt, weil es selbstverständlich gilt. Jeder von uns trägt seine eigene Wahrheit in sich. Sie ist ein Konstrukt, das auf unseren Erfahrungen, inneren Überzeugungen und begrenzten Wahrnehmungen basiert. Jedoch haben diese scheinbar festen Wahrheiten ein wackliges Fundament.
Unsere tiefsten Überzeugungen können durch neue Erkenntnisse oder kulturelle Widersprüche erschüttert werden. Was wir als unumstößlich erachten, gerät manchmal fundamental ins Wanken.
Wir meinen, vieles zu verstehen und damit die Wahrheit zu besitzen. Doch sollten wir nicht aufpassen, dass unsere selbst konstruierte Wahrheit uns am Ende nicht besitzt? Dass wir nicht selbst besessen werden?
Wissen im Kontext der KI
Die technische Entwicklung und die künstliche Intelligenz (KI) hat tiefgreifende Auswirkungen auf unser Verständnis von Wissen und auf die Art, wie es gewonnen und verarbeitet wird.
Die Informationstechnologie und jetzt die KI verändert nicht nur die Art und Weise, wie wir auf Wissen zugreifen dramatisch. Mit unseren Handys haben wir im Augenblick Zugriff auf mehr Informationen als es in der Biblothek in Alexandria verfügbar war.
Auch die Art der Wissensgewinnung verändert sich drastisch.
Riesige Mengen an Informationen sind nur mit einem Klick verfügbar. Große Sprachmodelle (LLMs) und KI-gestützte Suchmaschinen servieren uns das Wissen auf dem (sprichwörtlichen) Tablett.
KI generiert auch selbst neues Wissen, indem sie Muster analysiert und neue Verbindungen herstellt. Die KI-Systeme lernen ständig. Sie aktualisieren ihre Wissensbasis kontinuierlich.
Nun verwendet ChatGPT 1o auch ‚Reasoning‘:
- nimmt grundlegende Informarionen
- bildet Gedankenketten
- folgt logischer Argumentation
- zieht Schlussfolgerungen
Wir können der KI eine gewisse Urteilsfähigkeit und Urteilsfindung unterstellen. Zumal die KI dem Menschen im Schach, im Go und im Poker bereits überlegen ist.
Nun widmet sich die KI dem ‚Game of Diplomacy‘. Cicero prognostiziert die wahrscheinlichen menschlichen Handlungen für jeden Spieler und entwickelt eine eigene Strategie …
KI generiert aber auch falsches Unwissen. Die KI-Ergebnisse sollten daher stets kritisch hinterfragt werden. Die Informationsüberflutung darf nicht zum Verlust des kritischen Denkens führen.
Bildungserfahrung neu gestalten
Damit verändert die KI die persönliche, organisatorische und gesellschaftliche Bildungserfahrung grundlegend:
- Durch die intensive Bildschirmzeit, auch in früher Kindheit, verändert sich oft die Aufmerksamkeitsspanne negativ.
- Zeiten, in denen wir nichts tun, verschwinden. Wir sind ständig abgelenkt. Auch das kann negativ unsere Gehirnstruktur verändern.
- KI eröffnet neue Bildungsmethoden, die auf die individuellen Bedürfnisse angepasst werden, die aber auch genutzt werden müssen.
- Algorithmen können aufgrund der Datenanalysen optimale Lernstrategien entwickeln.
Die übermäßige Nutzung der KI kann eine Abhängigkeit hervorrufen. Menschen werden immer weniger in der Lage sein, ohne diese Hilfsmittel zu arbeiten.
Genauso wie wir nicht mehr ohne Messer unser Essen zubereiten, nicht mehr ohne Bücher uns bilden, werden wir in Zukunft auch die KI nutzen mit dem Ziel die Zusammenarbeit von Menschen und KI-Agenten bestmöglich zu verknüpfen.
Wenn wir die Herausforderung annehmen, fokussiert bleiben, unseren Wissensdurst bewahren, dann können auch wir uns mit der KI wachsen und das Potenzial voll ausschöpfen. Es geht um die Optimierung der Zusammenarbeit von Mensch und KI.
Wahrheit im Kontext der KI
Das Konzept der Wahrheit wird in der Ära der künstlichen Intelligenz zunehmend komplexer. Die KI kann zwar dabei helfen, Fakten zu verifizieren. Sie kann jedoch auch Fehlinformationen in einer sehr überzeugenden Form verbreiten.
Besonders die Fähigkeit der KI, menschliche Texte, Bilder und Sprache zu imitieren, sorgt für Verunsicherung. Immer öfter fragen sich Menschen, ob sie mit einem echten Menschen oder einem Bot kommunizieren. Dieses zunehmende Misstrauen lässt auch die Wahrheit außen vor.
Spreche ich jetzt mit einem echten Menschen? Meint die E-Mail wirklich mich? Durch die wachsende Zahl von Spam-Anrufen und -Nachrichten drohen echte Beziehungen zu verhungern. Das Verbindende wird vernebelt.
Das Wesen der Wahrheit selbst wird von immer mehr Menschen infrage gestellt. Wenn digitale Informationen die Mehrheit bilden, wird es immer schwieriger, persönliche und manipulierte Wahrheiten voneinander zu unterscheiden.
Wissen und Wahrheit im Wandel der Zeit
Wissen und Wahrheit sind nicht nur einem stetigen Wandel unterworfen. Sie sind auch eng mit unserem Verständnis von Zeit verknüpft.
Ursprünglich war das Zeitverständnis von dem Rhythmus der Natur bestimmt: Sonnenauf- und -untergang oder Jahreszeiten bestimmten das Sein.
Mit der Industrialisierung übernahmen die Uhren die Kontrolle. Sie gaben dem menschlichen Dasein den Takt vor. So vermittelten sie den Eindruck oder auch die innere Wahrheit, die Zeit sei eine feste, lineare Größe.
Mit Einsteins Relativitätstheorie wissen wir, dass die Zeit unterschiedlich schnell verläuft. Raum und Zeit wurden zu einem untrennbaren Kontinuum, das unser Verständnis von der Wirklichkeit und Wahrheit revolutionierte.
Die heutige Wissenschaft stellt mit der Quantenmechanik die Zeit selbst infrage. Einige Theorien deuten sogar darauf hin, dass die Zeit möglicherweise gar nicht als fundamentale Größe existiert. Aber dafür haben wir nun wirklich keine Zeit …
Entdeckungen verändern unser Wissen und unsere Wahrheiten fundamental. Aber nur, wenn wir dies auch zulassen.
Auch mit der KI wird die Vorstellung fester Wahrheiten erschüttert werden.
Wir dürfen akzeptieren, dass Wissen und Wahrheit und vielleicht auch die Zeit selbst keine festen Ankerpunkte sind, sondern ein Teil des ständigen Wandels.
Nichts mehr als vorläufige Gewissheiten
Wie können wir nun mit dieser sich wandelnden Realität umgehen?
Das rasante Tempo der KI-Entwicklung erfordert auch eine rasante Veränderung unseres Verhaltens. Wissen und Wahrheit sind immer neu zu denken, manchmal aber auch neu zu erfinden.
Neugier, kritisches Denken und digitale Kompetenz sind dabei entscheidend.
Wir müssen lernen, mit der Informationsflut zu bewältigen. Erkennen können, was relevant und wahr ist.
Nicht zuletzt ist die Abhängigkeit von der Technologie ein zentrales Thema. Je mehr wir uns beim Wissenserwerb, beim Lern- und Innovationsprozess und bei der Wahrheitsfindung auf die KI verlassen, desto größer ist die Gefahr, dass uns Menschen viele grundlegende Fähigkeiten – wie das Lesen, Schreiben und das strukturierte Denken – verkümmern. Seien wir uns dieser Gefahr bewusst. Aber: Gefahr erkannt, ist noch lange nicht gebannt.
Wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass Wissen und Wahrheit nicht statisch sind. Wissen und Wahrheit sind vielmehr ein dynamischer Prozess, der, wenn wir Schritt halten, uns viel weiter bringt, als wir es uns heute vorstellen können.
Vielleicht ist die Frucht der digitalen Erkenntnis noch für uns Menschen noch schwer verdaulich. Damit sind viele Menschen überfordert.
Vielleicht ist nicht die Zeit, die wir haben, das knappe Gut.
Ist es nicht vielmehr unsere Aufmerksamkeit?
Vielleicht werden auch das zwischenmenschliche Vertrauen und die menschliche Intimität zu den knappsten Gütern werden.
Das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und ihre innere Wahrheit droht abhanden zu kommen.
Behalten wir das im Blick. Wir sollten diese immateriellen Güter, die der Kitt unserer Organisationen und Gesellschaften sind, nicht aus dem Blickfeld verlieren.
Wissen und Wahrheit sind vorläufig.
Möglicherweise das Paradies auch.
Die Würfel sind noch nicht gefallen.
Noch generiert die KI ‚falsche‘ Würfel, die leicht zu erkennen sind. Werden wir die Täuschungen der KI auch zukünftig so leicht entlarven?
Lassen wir uns nun aus dem Paradies vertreiben, bevor wir es als solches erkannt haben?
Die Würfel lassen wir rollen. Wir haben sie noch in der Hand.
Artikel aktualisiert am 13.09.2024
Quellen
Aschenbrenner, L. (2024): Situational Awareness: The Decade Ahead.
Brundage, M. et al. (2018): The Malicious Use of Artificial Intelligence: Forecasting, Prevention, and Mitigation.
Carr, N. (2011): The Shallows: What the Internet Is Doing to Our Brains.
Chesney, R. und Citron, D. K. (2019): The Ethics of Deepfakes and Fake News in the Digital Age.
Eppler, M. J. und Mengis, J. (2004): The Effects of Information Overload on Decision Making: A Meta-Analysis.
Faggin, F. (2024): Irreducible: Consciouness, Life, Computers, and Human Nature.
Harari, Y. N. (2024): Nexus: Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz.
Meta Fundamental AI Research Team (FAIR) et al. (2022): Human-level play in the game of Diplomacy by combining models with strategic reasoning, Science 378, 1067-1074.
Newport, C. (2016): Deep Work: Rules for Focused Success in a Distracted World.
Reagan, R. zit. nach Los Angeles Times, 13. Juni 1989.
Rovelli, C. (2018): The Order of Time.
Viswani, N. et al. (2017): Attention is all you need.
Wu, T. (2016): The Attention Merchants: The Epic Scramble to Get Inside Our Heads.